Donnerstag, 30. Dezember 2010

Kritik des Sarrazin-Buches I: Einleitung und Kernthese

Thilo Sarrazin ist schon reich genug und darf nicht noch reicher werden. Deshalb rate ich davon ab, das Buch zu kaufen. Für die Sarrazin-Kritiker lese und analysiere ich hier ein geliehenes Exemplar des Buches.

In der Einleitung verkündet Sarrazin seine drei Kernthesen:

  • Die deutsche Bevölkerung wird voraussichtlich auf 25 Millionen im Jahr 2110 schrumpfen (und auf 3 Millionen im Jahr 2410).
  • Gleichzeitig werden "wir Deutschen" dabei immer dümmer und fauler, weil die Qualität der Neugeborenen abnimmt. Deshalb werden wir weniger leistungsfähig, also ärmer.
  • Dabei spielt die Zuwanderung eine wichtige Rolle. Der Versuch, das Schrumpfen der Bevölkerung durch Zuwanderer (Migranten) auszugleichen, verschärft das Problem des Dümmer-und-Fauler-Werdens.

Gleich auf Seite 5 bedient Sarrazin die deutschnationale Szene mit folgendem Gedankengang: Wenn im Jahr 2100 nur noch 250.000 Kinder pro Jahr geboren werden und die Hälfte davon von Vorfahren stammt, die 1965 noch nicht in Deutschland lebten, hätte Deutschland sich selbst "quasi abgeschafft". Manche empfänden dieses Schicksal als "gerechte Strafe für ein Volk, in dem einst SS-Männer gezeugt wurden"; nur so sei ihre "klammheimliche Freude" über das "Aussterben" der Deutschen zu erklären. Hier macht Sarrazin seine Gegner dingfest - also dich und mich.

Sarrazins Gedankengang stimmt hinten und vorne nicht. Vier Gründe:
  1. Mit 250.000 Geburten pro Jahr und 25 Millionen Einwohnern wäre Deutschland immer noch ein großes und mächtiges Land. Keine Rede davon, dass es "sich abgeschafft" hätte. Zudem ist diese Prognose höchst zweifelhaft. Sarrazin schreibt entlarvend: "Geht das so weiter - und warum sollte sich etwas ändern an diesem Trend, der schon über vier Jahrzehnte anhält - dann..." In dieser See sind schon sehr viele Prognosen versunken. Es kommt in der Geschichte immer wieder vor, dass auch 40jährige Trends plötzlich zu Ende gehen. Ein Beispiel war der Trend zum Sozialismus in Ostdeutschland.
  2. Sarrazin, der große Mathematiker, unterliegt einem Denkfehler (oder einem rassistischen Dogma), wenn er einerseits eine aktuelle Entwicklung dynamisch bis ins Jahr 2100 fortschreibt, andererseits aber den Maßstab dafür, was ein Deutscher ist, im Jahr 1965 (zu Beginn der Gastarbeiter-Anwerbung) fest verankert. In den vielen Jahrzehnten, die er überblickt, werden nicht nur die Deutschen weniger, sondern die Nachfahren ehemaliger Migranten werden vermutlich auch immer deutscher. An anderen Stellen im Buch weist er selbst auf diesen Effekt hin.
  3. Dafür, eine Abnahme der deutschen Bevölkerung nicht schlimm zu finden, gibt es viel mehr Motive, als Sarrazin und andere Deutschnationale sich vorstellen können. Man kann sich z. B. darauf freuen, dass die Staus auf den Autobahnen kürzer werden, dass der Verkehrslärm abnimmt, dass man billiger ein Haus mit Garten kaufen kann oder dass wieder mehr Wildkatzen und Luchse in Deutschland leben können.
  4. Für das antideutsche Motiv, das Sarrazin als einziges gelten lässt, liefert er keinerlei Beleg. Es ist einfach nur eine plumpe Unterstellung. (Sicher gibt es ein paar Leute, die so denken; ich schätze, etwa 20.000, also knapp 0,05 % der Wahlbürger. Ich selbst gehöre nicht dazu und auch keiner meiner Freunde.)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen