Der Reichstag des wilhelminischen Kaiserreiches hatte nicht
viele Rechte, aber das Budgetrecht hatte er. Wenn die Regierung Geld brauchte,
war sie auf die Zustimmung des Reichstags angewiesen. Die Sozialdemokraten im
Reichstag konnten das nicht verhindern, und es gab gute Gründe, einen offenen
Aufstand gegen den Krieg für aussichtslos zu halten. Aber eine Zustimmung zu
den Kriegskrediten, wie sie der #er Abgeordnete Eduard David verlangte, ging weit über die
Hinnahme des Unvermeidlichen hinaus: Die SPD verzichtete damit nicht nur auf
Widerstand, sie stimmte dem Krieg offen zu; sie unterstützte den Krieg einer
Regierung, deren militaristischer und imperialistischer Charakter zuvor
allgemein anerkannt gewesen war. Die Entscheidung fiel am 2. und 3. August in
der Reichstagsfraktion unter dem Eindruck der deutschen Kriegserklärung an
Russland, und bevor der Krieg mit Frankreich und England Tatsache war.
Diese
unklare Situation verhalf der Haltung des sozialdemokratischen Publizisten Friedrich Stampfer zum Durchbruch, der schon am 30. Juli
geschrieben hatte: Die Arbeiter müssten dem Kaiser und den Generälen folgen, um
die europäische Zivilisation vor der russisch-zaristischen Barbarei zu
schützen. Durch Verteidigung des Vaterlandes, so Stampfer, könne sich das
»freie Volk« auch im Innern ein freies Land erobern. Dies war die
sozialdemokratische Variante der
deutschen Idee eines »Schützengraben-Sozialismus«.
Am 2. August beschloss die Vorständekonferenz der sozialdemokratischen
Gewerkschaften unter Führung von Karl
Legien, alle laufenden Lohnkämpfe abzubrechen,
die Streikkassen in den Dienst der Kriegspolitik zu stellen und mit dem Geld
Arbeitslose zu unterstützen. Voller Stolz bot Legien der deutschen Regierung
den Beistand »seiner« vorbildlichen Arbeiter-Organisationen an. Von einem preußisch-deutschen
Reichskanzler als gleichberechtigter Verhandlungspartner behandelt zu werden,
das erfüllte ihm seine kühnsten Träume. Am gleichen Tag kämpfte Hugo Haase im
SPD-Fraktionsvorstand gegen eine Annahme der Kriegskredite. Er konnte sich
jedoch nicht gegen Eduard David, Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann
durchsetzen: mit vier gegen zwei Stimmen stimmte der Fraktionsvorstand für die
Bewilligung der Kriegskredite.
Am 3. August fand die entscheidende Sitzung der
SPD-Reichstagsfraktion statt. Dass alle anderen Fraktionen den Kriegskrediten
zustimmen würden, stand außer Frage. 92 der 111 SPD-Abgeordneten waren
anwesend. Eduard David, Ludwig Frank und Philipp Scheidemann sprachen für die Annahme
der Kriegskredite. Der Parteivorsitzende Hugo
Haase, Rechtsanwalt und überzeugter Pazifist
wie der Franzose Jaurès, sprach dagegen, ebenso der linke Flügelmann Karl Liebknecht, auch er Rechtsanwalt von Beruf und
Sohn des SPD-Gründervaters Wilhelm Liebknecht. Noch zwei, drei Tage vorher
hatten die meisten SPD-Politiker eine Ablehnung der Kriegskredite durch die
Fraktion erwartet. Die hitzige Debatte wurde schon nach kurzer Zeit durch einen
Antrag auf Schluss der Debatte abgebrochen. 78 Abgeordnete stimmten für und 14
gegen die Annahme der Kriegskredite. Haase vereinbarte mit Scheidemann, dass
dieser die Entscheidung der Fraktion im Reichstag begründen sollte. Doch
unmittelbar vor der Reichstagssitzung am 4. August zwang die Fraktionsmehrheit
ihren Mitvorsitzenden Haase, den gegen seinen Willen gefassten Beschluss selber
im Reichstag zu begründen, indem sie an sein Pflichtbewusstsein appellierten. So
trug der Pazifist jene schwammige Erklärung vor, mit der die deutsche
Sozialdemokratie ihre Zustimmung zum Krieg des deutschen Kaiserreiches
erklärte.[1]
Der heimtückische und offen imperialistische Überfall auf Belgien hatte einige
Stunden zuvor begonnen.
»Die Folgen der imperialistischen Politik ... sind wie eine
Sturmflut über Europa hereingebrochen. Die Verantwortung hierfür fällt den
Trägern dieser Politik zu, wir lehnen sie ab. (...) Jetzt stehen wir vor der
ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse feindlicher
Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir uns heute zu entscheiden,
sondern über die Frage der zur Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel.
(...) Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder
ohne Unterschied der Partei. (...) Für unser Volk und seine freiheitliche
Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus ... viel, wenn nicht
alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die
Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. Das machen wir wahr, was
wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland
nicht im Stich.«
Ein Passus, der sich ausdrücklich gegen deutsche Eroberungen
wandte, wurde auf Druck der Regierung noch kurzfristig herausgestrichen,
angeblich, weil er einen Kriegseintritt Englands hätte befördern können. Es
blieb bei dem allgemeinen Satz: »...wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr
[der Internationale] jeden Eroberungskrieg verurteilen.« Alle Abgeordneten, darunter
Karl Liebknecht, folgten der Fraktionsdisziplin und stimmten im Reichstag für
die Kriegskredite. August Bebels mutiger Auftritt gegen den
Deutsch-Französischen Krieg 1870 im Norddeutschen Reichstag war vergessen. Eine
der tragischen Folgen von Haases Pflichtbewusstsein bestand darin, dass auch in
der linksgerichteten Geschichtsbetrachtung sein lebenslanger unermüdlicher
Einsatz für den Frieden hinter dieser einen Stunde der Schwäche verschwand.
Konservative Historiker hüteten sich indessen, den jüdisch-preußischen
Sozialisten und Pazifisten für seinen »vaterländischen« Einsatz zu loben.[2]
Der 4. August 1914 hatte
für die deutsche und für die ganze europäische Arbeiterbewegung höchst
weitreichende Folgen, die in vielfältiger Weise auf die deutsche Geschichte
einwirken sollten. An diesem Tage scheiterte die 1889 in Paris gegründete II.
Internationale, deren größte und wichtigste Partei die SPD gewesen war. Drei
Wochen zuvor, am 12. Juli 1914, war sie noch mächtig und stark gewesen. Damals
trafen sich im französischen Städtchen Condé sur l'Escaut an der belgischen
Grenze 20.000 französische und belgische Arbeiter zu einer Friedenskundgebung,
auf der als deutscher Redner Karl Liebknecht sprach. Als der Deutsche auftrat, riefen
Tausende: »Vive l'Allemagne!« – »Es lebe Deutschland!« Und der Vorsitzende der
Versammlung erklärte, damit sei nicht das Deutschland der Hohenzollern, der
Krupp und der militärischen Cliquen gemeint, sondern das Deutschland der
Goethe und Schiller, der Kunst, der Wissenschaft, der Literatur und vor allem
der Sozialdemokratie.[3]
Am 4. August 1914 begann die Spaltung der deutschen
Arbeiterbewegung in einen staatstreu-sozialdemokratischen und einen
kommunistischen Flügel. Aus der Opposition gegen den Krieg entstand als
Keimzelle der späteren KPD die »Gruppe Internationale«, der neben Liebknecht,
Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Clara Zetkin auch der junge Wilhelm Pieck angehörte, später Mitbegründer und
Präsident der DDR. In der Schweiz hatte die Gruppe Kontakt zu dem dort im Exil
lebenden russischen Revolutionär Wladimir
Iljitsch Lenin. Der 4. August 1914 und die
bestialische Grausamkeit der Kriegstreiber des Weltkriegs ließen bei Lenin und
anderen den Gedanken reifen, der drei Jahre später zur Grundlage der russischen
Oktoberrevolution und der Kommunistischen Internationale wurde: Die Arbeiter
sollten aufhören, sich gegenseitig abzuschlachten, und die Waffen, die sie als
Soldaten in den Händen hatten, auf die Offiziere, Machthaber und Profiteure des
Krieges richten. Hier gründete Lenins Hass auf die »Sozialchauvinisten«, jene
Sozialdemokraten, die die Idee der »Vaterlandsverteidigung« anerkannten. In
Lenins Todesjahr 1924 spitzte Stalin den unglückseligen Begriff
weiter zu in »Sozialfaschisten« und verbaute den deutschen Kommunisten damit
den Weg zu einer Einigung mit der SPD gegen die wirklichen Faschisten.
Der von Hugo Haase und Karl Kautsky ab 1915 angelegte
dritte, pazifistische Flügel begründete ebenfalls eine Traditionslinie, die
später von Leuten wie Gustav Heinemann, Willy Brandt, Erhard Eppler und
Heidemarie Wieczorek-Zeul wieder aufgegriffen wurde.
[1]
Zit. nach Chronik der Deutschen, S.
740
[2]
Über Haase fanden m. W. kein einziges
positives Wort: Gordon Craig, Karl Dietrich Erdmann, Georg Fülberth, Fritz Klein,
Jürgen Kuczynski. Fritz Fischer allerdings würdigte ihn: ##
[3] "Volksfreund" (Karlsruhe) vom 18.
7. 1914, zit. nach Liebknecht, Karl: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII,
Berlin (DDR) 1966, S. 4.
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